Gedichtinterpretation

Kapitel:

Index:

Alexandriner

Distichon

Knittelvers

Reim

Symbol

Alliteration

Endreim

Lied

Rhythmus

Terzine

Anapäst

Enjambement

Lyrisches Ich

Schüttelreim

Trochäus

Assonanz

Freie Rhythmen

Madrigalvers

Sonett

Vers

Ballade

Gedichtformen

Metrum

Stabreim

Volksliedstrophe

Blankvers

Hexameter

Pentameter

Strophe

Zäsur

Daktylus

Jambus

Reim

Strukturelemente

Zeilenstil

 

 

 

Ein mögliches Arbeitsverfahren für eine Gedichtinterpretation

  1. Man liest das Gedicht mehrmals und notiert sich dabei alles, was einem auffällt.
     
  2. Man stellt sich die Frage: Welche Erfahrung, welches Erlebnis gestaltet der Dichter in seinem Gedicht? - und versucht sie zu beantworten.

  3. Man sieht das Gedicht unter verschiedenen Gesichtspunkten durch:

    ÄUSSERER AUFBAU:
    Gliederung in Verse bzw. Strophen, metrisches Schema, Reimschema.

    SINNGLIEDERUNG DES TEXTES: Unterscheiden der gedanklichen Schritte und / oder der Schritte des Geschehens. Welches sind Schlüsselstellen, Wendepunkte? Ist der Schluss offen?.

    PERSONEN: Wer spricht, handelt, wird angesprochen? Welche Position nimmt
    das lyrische Ich ein?

    SYMBOLEBENE: Bedeutung der Bilder, Farben, Orte, Landschaften?

    SCHLÜSSELBEGRIFFE: Welche Wörter sind im Ganzen des Gedichts wesentlich? Worin liegt ihre Bedeutung? Sind sie positiv oder negativ konnotiert? Welche Wortfelder sind erkennbar?

    RHETORISCHE FIGUREN: z.B. Metapher, Vergleich, Symbol, Allegorie, Ironie, Personifikation.

    RHYTHMUS:
    Fällt die Sinngliederung (der Satz) mit der metrischen Gliederung (Vers) zusammen? Zeilenstil oder
    Enjambement - welche Wirkung haben sie?
    Ist parataktischer Satzbau (Satzreihe) oder hypotaktischer Satzbau (Satzgefüge) vorherrschend? Verwendet der Text kurze oder lange, einfache oder stark gegliederte Sätze? Ist der Satz flüssig und glatt oder durch Einschübe unterbrochen, durch Umstellungen (
    Inversion) gespannt?
    Steigert der Text durch Wiederholung (
    Anapher, Parallelismus)?

    KLANG: Herrschen bestimmte Vokale vor und welche Wirkung wird dadurch erzielt? Gibt es
    Alliterationen und was wird durch sie hervorgehoben?

    DEUTUNGSHINWEISE: Man stellt fest, ob der Dichter unmittelbar Hinweise zum Verständnis des Gedichtes gibt.

  4. Man fragt nun noch einmal, was der Dichter eigentlich will: Bestätigung oder Korrektur des ersten Eindrucks? Wie ist seine Grundstimmung? Was ist sein zentrales Thema, seine Problematik?
    Durch welche sprachlichen Mittel werden sie »vermittelt«, d.h. wo und wie kann eine Einheit von Inhalt und Form der Aussage gezeigt werden?
     
  5. Man beschafft sich Informationen über Autor, Werk, Entstehungszeit und literarische Epoche und prüft, inwieweit diese Informationen das Verständnis des Gedichts erweitern bzw. vertiefen können.

Anmerkung:

Dieses »Arbeitsverfahren« ist ein Vorschlag, d.h.:

 Angesichts der Vielfalt verschiedener Gedichte sind die genannten Punkte nicht erschöpfend, sie müssen auch nicht immer alle auftreten bzw. von Bedeutung sein.

Jeder individuelle Zugang ist erwünscht, wenn er zu einer plausiblen, nachvollziehbaren Deutung führt, die durch den Text des Gedichtes abgesichert werden kann.

 

 

 

Wer von einem Gedicht seine Rettung erwartet,
der sollte lieber lernen, Gedichte zu lesen.
Wer von einem Gedicht keine Rettung erwartet,
der sollte lieber lernen, Gedichte zu lesen.

 

   Das »Arbeitsverfahren«
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   zum Ausdrucken.

Erich Fried

 

 

 

Begriffe zur Beschreibung von Gedichten

Lyrisches Ich     Symbol

 

LYRISCHES ICH


In einem Gedicht äußert sich ein Subjekt über sein Verhältnis zur Welt, über seine besondere Sicht der Welt, indem es sie beschreibt bzw. über sie reflektiert. Insofern ist das »lyrische Ich« ein zentraler Begriff der Lyrik.

Auf mehrfache Weise kann das lyrische Ich im Zentrum eines Gedichts stehen:

 

-  Ein Ich, das sich ausspricht, wird ausdrücklich genannt.

   Beispiel:             

    Heinrich Heine: Enfant perdu

    Verlorener Posten in dem Freiheitskriege,
    Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.
    Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege,
    Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.

    Ich wachte Tag und Nacht - Ich konnt nicht schlafen,
    Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar
    (Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven
    Mich wach, wenn ich ein bißchen schlummrig war).

    In jenen Nächten hat Langweil ergriffen
    Mich oft, auch Furcht - (nur Narren fürchten nichts) -
    Sie zu verscheuchen, hab ich dann gepfiffen
    Die frechen Reime eines Spottgedichts.

    Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme,
    Und nahte irgend ein verdächtger Gauch,
    So schoß ich gut und jagt ihm eine warme,
    Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch.

    Mitunter freilich mocht es sich ereignen,
    Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut
    Zu schießen wußte - ach, ich kanns nicht leugnen -
    Die Wunden klaffen - es verströmt mein Blut.

    Ein Posten ist vakant! - Die Wunden klaffen -
    Der Eine fällt, die Andern rücken nach -
    Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen
    Sind nicht gebrochen - Nur mein Herze brach.

                        Aquarell von Michael Mathias Prechtl,
                        Heine, Loreley und Marianne (1984)

 

-  Auch ohne formale Ich-Nennung kann das lyrische Ich bzw. Subjekt durch die Perspektive der
   Beschreibung, durch die Art der Weltdarstellung oder durch ein Urteilen das zentrierende Element
   sein.

   Beispiele:

                                                                                 Bertolt Brecht: Der Rauch

    Das kleine Haus unter Bäumen am See.
    Vom Dach steigt Rauch
    Fehlte er
    Wie trostlos dann wären
    Haus, Bäume und See.


    Das lyrische Ich lässt sich in der Sichtweise, aber auch im Urteil entdecken (»Fehlte er / Wie trostlos dann wären [...]«).

 

         

        Jakob van Hoddis: Weltende

        Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.
        In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
        Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
        Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

        Der Sturm ist da, die wilden Meere hüpfen
        An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
        Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
        Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

        Hier enthält sich das lyrische Ich eines Urteils, scheinbar ist es nicht vorhanden. Von der Art der Weltdarstellung her allerdings - simultane Montage unzusammenhängender, mit unangemessenem Wortmaterial erfasster Bilder - kann man auf die Befindlichkeit des lyrischen Ich schließen.

         

-  Das lyrische Ich kann sich als »Du« äußern.

    Beispiel:

    Johann Wolfgang Goethe: Wanderers Nachtlied 

    Über allen Gipfeln
    Ist Ruh,
    In allen Wipfeln
    Spürest du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruhest du auch.

    Das »Du« ist hier mehr als Selbstansprache des lyrischen Ich zu begreifen, als dass es Anrede an ein Gegenüber ist.

 

 

 

Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau, an deren Wand Goethe das Gedicht »Wanderers Nachtlied« schrieb.

 

 

Wie der Erzähler in der erzählenden Literatur ist das lyrische Ich eine poetische Figur, Teil der fiktiven Welt der Dichtung. Das lyrische Ich und der Dichter sind also nicht einfach identisch, ihre Beziehung weist unterschiedliche Grade der Nähe auf.

Beispiel:

Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters 

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon -
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch, bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

Bertolt Brecht ist nicht der lesende Arbeiter, auch wenn er sich zuweilen in seinem Äußeren so stilisiert hat.

 

 

SYMBOL

Ursprüngliche Bedeutung

griech. symbolon = das Zusammengeworfene, Zusammengefügte; dann Kennzeichen, Wiedererkennungszeichen.

Im antiken Griechenland gaben sich Freunde oder Vertragspartner bei einer Trennung die beiden Hälften eines zerbrochenen Gegenstandes, z .B. eines Ringes, einer Münze, eines Stabes, die bei der Überbringung durch einen Boten zusammenpassen mussten, um die Echtheit einer Botschaft zu beglaubigen.

 

Allgemeine Bedeutung

Entsprechend der ursprünglichen Bedeutung besteht ein Symbol als Zeichen aus zwei Teilen:
Der eine Teil des Symbols ist ein Bild, etwas Anschauliches, Vorstellbares. Dieses Bild erhält seinen Sinn, seine Bedeutung dadurch, dass es auf etwas anderes bezogen wird. Dieses Zweite kann ein Gedanke sein, eine Idee, ein abstrakter Begriff, eine Aussage oder etwas Unaussprechliches, das durch das Bild »versinnlicht« wird. Das Symbol weist also über sich hinaus, es ist mehr als nur das Dargestellte.

Beispiele:

                                                       
             Nur eine Taube?                                                                  Nur ein rotes Schleifchen?

 

 

Nur ein Herr mit einem Jagdfalken?

Natürlich nicht - in Giovanni Boccaccios (1313 - 1375) berühmter Falkennovelle aus seiner Novellensammlung »Dekamerone«. Die Rahmenerzählung führt eine Gesellschaft von sieben Damen und Herren vor, die vor der Pest von 1348 aus Florenz auf ein Landgut geflüchtet sind. Um die Wartezeit zu verkürzen, erzählen sie sich dort an zehn Tagen insgesamt hundert »novelle« mit meist erotischer Thematik. So auch in der berühmten 9. Geschichte des 5. Tages:
Feredrigo, ein Florentiner von Adel, verehrt die verheiratete adlige Monna Giovanna mit solchem Aufwand, dass er darüber verarmt und sich auf sein kleines Landgut zurückzieht. Giovannas Mann stirbt und sie zieht auf das Nachbargut. Der einzige Überrest von Federigos adliger Existenz ist ein edler Falke. Ihn begehrt Giovannas kleiner Sohn, und als er erkrankt und danach verlangt, macht die Mutter Federigo einen Besuch um den Falken zu erbitten. Doch fällt sie nicht mit der Tür ins Haus, sie lädt vielmehr sich mit ihrer Freundin bei Federigo zum Essen ein. Sie zu ehren lässt er sein Bestes schlachten: eben den Falken. Und als sie nach dem Essen ihre Frage an ihn richtet, ist unterdessen der Falke verspeist. Federigo ist erschüttert, dass er die Bitte nicht gewähren kann, er bricht in Tränen aus mit einer Rede, die die Tiefe seiner Liebe zeigt. Nachdem das Kind gestorben und Giovanna nach einem Jahr von ihren Brüdern zur Ehe gedrängt wird, beehrt sie den verarmten Federigo mit ihrer Hand: »Ich ziehe den Mann, der des Vermögens entbehrt, dem Vermögen vor, das des Mannes entbehrt.«

Der Falke steht in Bocaccios Novelle für die feste Bindung an die gesellschaftliche Ordnung, vor allem aber für die bedingungslose Liebe, die zu jedem Opfer bereit ist.

 

Besondere Bedeutung des Symbols in der Dichtung

Neben den Symbolen, die jeder sofort versteht, weil sie kollektiver Besitz sind - z.B. die Farbsymbolik: Schwarz für Trauer, Grün für Hoffnung - sind Symbole in der Dichtung zu einem Gesamtbild ausgestaltet.

Charakteristisch kann dabei sein:

  • Das Symbol verweist vom einzelnen Bild (Person, Gegenstand, Handlung) auf einen allgemeinen Sinnzusammenhang, der hinter seiner sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung liegt.
  • Das Besondere, Anschauliche, Konkrete enthält etwas Allgemeines, das oftmals nicht »mit anderen Worten« wiedergegeben werden kann..
  • Vgl. Goethe: »Wer nun dieses Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.«

    Und: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.«

    Goethes Verständnis des Symbols:

    »Was von meinen Arbeiten durchaus und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, dass sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfasst worden, deshalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, dass bei besonderen äußeren, oft gewöhnlichen Umständen ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte.«

    »Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, lässt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. Dies gilt von allen Phänomenen der fasslichen Welt.«

    »Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. – Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Erfahrung des Unerforschlichen.«

     

Beispiele für ein symbolisches Gesamtbild in einem Gedicht

    Johann Wolfgang Goethe

    Meeresstille

    Tiefe Stille herrscht im Wasser,
    Ohne Regung ruht das Meer,
    Und bekümmert sieht der Schiffer
    Glatte Fläche rings umher.
    Keine Luft von keiner Seite!
    Todesstille fürchterlich!
    In der ungeheuern Weite
    Reget keine Welle sich.

               

              Glückliche Fahrt

              Die Nebel zerreißen,
              Der Himmel ist helle,
              Und Aeolus löset
              Das ängstliche Band.
              Es säuseln die Winde
              Es rührt sich der Schiffer.
              Geschwinde! Geschwinde!
              Es teilt sich die Welle,
              Es naht sich die Ferne;
              Schon seh' ich das Land!

Eine konkrete Erfahrung auf seiner Reise in Italien (vgl. Tagebucheintrag vom 14. Mai 1787) gestaltet Goethe in diesem Doppelgedicht zu einem Symbol für die polare Spannung von Tod und Leben, von Gefahr und Rettung, von Lähmung und Bewegung.

 

        Rainer Kunze

        Die antenne

        1
        Sie abzusägen, drohte
        die straße

        Die antenne flüchtete
        unter den first, hier

        zeigte auf sie
        das haus

        Die antenne flüchtete
        ins zimmer, hier

        zeigten auf sie
        die wände

        Die antenne flüchtete
        in den kopf, er

        bot sicherheit

        2
        Vorerst
                                             e 1965

Ein widersinniges Bild: Die Antenne flüchtet sich Schritt für Schritt in den Kopf dessen, dem sie Öffnung zur Außenwelt sein sollte. Die ihrer Funktion beraubte Antenne als Symbol für die Bedrohung der Meinungsfreiheit durch totalitäre Systeme. (Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Literarische Grundbegriffe. Bamberg 1995, S. 195 f.)

Beispiel für Symbole in einem Gedicht der Romantik

    Joseph von Eichendorff

    Sehnsucht

    Es schienen so golden die Sterne,
    am Fenster ich einsam stand
    und hörte aus weiter Ferne
    ein Posthorn im stillen Land.
    Das Herz mir im Leibe entbrennte,
    da hab' ich mir heimlich gedacht:
    Ach, wer da mitreisen könnte
    in der prächtigen Sommernacht!

    Zwei junge Gesellen gingen
    vorüber am Bergeshang,
    ich hörte im Wandern sie singen
    die stille Gegend entlang:
    Von schwindelnden Felsenschlüften,
    wo die Wälder rauschen so sacht,
    von Quellen, die von den Klüften
    sich stürzen in Waldesnacht.                                                                        
    Caspar David Friedrich

    Sie sangen von Marmorbildern,
    von Gärten, die überm Gestein
    in dämmernden Lauben verwildern,
    Palästen im Mondschein,
    wo die Mädchen am Fenster lauschen,
    wann der Lauten Klang erwacht,
    und die Brunnen verschlafen rauschen
    in der prächtigen Sommernacht.

               

              Romantische Symbole in Eichendorffs »Sehnsucht«

              Nacht

              Symbol für Freiheit der Seele und Vereinigung von Mensch und Natur

              Wandern

              Ausdruck der nie ans Ziel kommenden Sehnsucht

              Wasser und Gebirge

              Bilder für das Unendliche und das Elementare

              Verfallene Gärten, Paläste, Brunnen

              Symbol für die Abkehr vom Vollkommenheitsideal der Klassik, für die erstrebte Verbindung von Vergangenem und Gegenwart

 

 

 

               

                

 

 

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Gliederung und Aufbau von Gedichten

Metrum

Versformen

Strophenformen

Weitere Strukturelemente

Gedichtformen

Anapäst

Alexandriner

Distichon

Alliteration

Ballade

Daktylus

Blankvers

Terzine

Assonanz

Freie Rhythmen

Jambus

Hexameter

(Volks-)Liedstrophe

Enjambement

Sonett

Trochäus

Knittelvers

 

Reim (Endreim)

 

 

Madrigalvers

 

Rhythmus

 

 

Pentameter

 

Zäsur

 

 

 

 

Zeilenstil

 

 

 

METRUM

Das Metrum ist im Deutschen die regelmäßige Abfolge von stark betonten Silben (man nennt sie Hebungen) und schwach betonten bzw. unbetonten Silben(man nennt sie Senkungen).

Die wichtigsten Metren (= Plural von Metrum)

  • Der Jambus (Pl. die Jamben; von griech. »Springender«): Abfolge einer unbetonten und einer betonten Silbe:
    È - (gekónnt, Empfáng).
     
  • Der Trochäus (Pl. die Trochäen; von griech. »schnell«): Abfolge einer betonten und einer unbetonten Silbe:
     
    - È (Lében, Róse, Físcher).
     
  • Der Daktylus (Pl. die Daktylen; von griech »Finger«): Abfolge einer betonten und zweier unbetonter Silben:
    - È È (Königin, Héilige [Einfalt], Fíngerhut).
     
  • Der Anapäst (Pl. die Anapäste; von griech »Zurückprallender«): Abfolge zweier unbetonter und einer betonten Silbe:
     
    È È - (Schweineréi, ignoránt).

.

.

 

VERSFORMEN

Einzelne Gedichtzeilen nennt man Verse. Zumeist sind sie gekennzeichnet durch ein mehr oder weniger strenges Metrum und die Festlegung des Zeilenendes. Gängige Versformen sind z.B.:

  • Der Blankvers: fünffüßiger Jambus, d.h. eine Folge von fünf Jamben in ungereimten Versen, wird oft in klassischen Dramen verwendet, z.B. in Lessings »Nathan der Weise«.
  • Der Alexandriner (in französischen Epen um Alexander den Großen im 12. Jahrhundert entstanden und verwendet): sechsfüßiger Jambus mit Mittelzäsur, d.h. nach dem dritten Jambus unterbricht eine kleine Pause den Fluss der Zeile.
  • Der Hexameter (von griech. »sechsfüßig«): eine Verszeile mit sechs Hebungen ( _ ).


    Der antike Autor Homer hat seine Epen »Ilias« und »Odyssee« in Hexametern geschrieben.
    In der deutschen Sprache, besonders seit dem Sturm und Drang, erhielt der Hexameter folgende Besonderheiten:
    Die ersten vier Takte sind zweisilbig (
    ¾ ¾ )oder dreisilbig ( ¾ È È ) gefüllt; der fünfte Takt muss drei Silben haben ( ¾ È È ), der sechste Takt beendet die Zeile mit weiblicher Kadenz ( ¾ ¾ oder ¾ È ) Eine solch lange Zeile wird durch eine Zäsur geteilt. Sie liegt meist nach dem dritten oder vierten Takt. Einen Reim kennt der Hexameter nicht, dafür wird er oft mit dem Zeilensprung gebildet. Auf diese Weise entstehen Zeilen, die rhythmisch unterschiedlich bewegt sind.




    Ein Beispiel dafür ist Goethes Versepos »Reineke Fuchs«:



    Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen! es grünten und blühten
    Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
    Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
    Jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen,
    Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.



  • Der Pentámeter (von griech. »fünf« und »Maß«): auch aus der Antike stammende Versform, der das Metrum Daktylus zugrunde liegt. Trotz seines Namens besteht der Pentameter aus sechs Hebungen, doch anstelle des dritten und des sechsten Daktylus steht nur eine Hebung ohne Senkungen (unbetonte Silben), so dass in der Versmitte zwei betonte Silben unmittelbar aufeinander folgen und eine stauende Wirkung entsteht.
    - È È - È È - / - È È - È È -
    Ein Beispiel aus Goethes »Römischen Elegien« (Dritte Elegie, zweiter Vers):
    Glaub es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von dir [. . .]

    Fast immer ist der Pentameter Teil eines
    Distichons.

     
  • Beim Knittelvers unterscheidet man
    strenge Knittel: vierhebiger alternierender (eine betonte Silbe wechselt immer mit einer unbetonten: Wechsel von Hebung und Senkung) Vers meist mit Auftakt und mit männlichem oder weiblichem Versende. Paarig gereimt. Durch den strengen Knittel kommt es häufig zu Tonbeugungen, d. h. es wird der natürlichen Wortbetonung oft nicht Folge geleistet, und
    freie Knittel: nicht festgelegte Versfüllung, d. h. er kann auf eine Senkung ganz verzichten oder aber auch vier und sogar mehr Senkungen pro Hebung besitzen; auch der Reim kann unregelmäßig sein.

    Der Knittel ist der wichtigste Vers in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts. Seit dem 18. Jahrhundert wurde er als »Vers des Volkes« wieder aufgegriffen, z. B. in Goethes Urfaust, in der Kapuzinerpredigt in Schillers Wallenstein oder bei Wilhelm Busch. Gelegentlich wird er auch heute noch als Mittel der Parodie verwendet.

    Goethes Faust (Erster Teil) z.B. beginnt mit einem freien Knittel:
    Hábe nun, ách! Phílosophìe,
    Júristerèi und Médizìn
    Und léider áuch Théologìe
    Durcháus studíert, mit héißem Bemühn.
    Da stéh’ ich nún, ich ármer Tór,
    Und bín so klúg als wíe zuvór!

    Ebenfalls aus Goethes »Faust« ein Beispiel für einen strengen Knittel:
    Und frágst du nóch, warúm dein Hérz
    Sich báng in déinem Búsen klémmt?
    Warúm ein únerklärter Schmérz
    Dir álle Lébensrégung hémmt?





    Ein bekanntes Beispiel für einen strengen Knittelvers findet man bei Wilhelm Busch:

    Ach, was muss man oft von bösen
    Kindern hören oder lesen!!
    Wie zum Beispiel hier von diesen,
    welche Max und Moritz hießen;
    Die, anstatt durch weise Lehren
    sich zum Guten zu bekehren,
    Oftmals noch darüber lachten
    und sich heimlich lustig machten.
    Ja, zur Übeltätigkeit,
    Ja, dazu ist man bereit!
    Menschen necken, Tiere quälen,
    Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen,
    Das ist freilich angenehmer
    und dazu auch viel bequemer,
    Als in Kirche oder Schule
    festzusitzen auf dem Stuhle.
    Aber wehe, wehe, wehe!
    Wenn ich auf das Ende sehe!

  • Der Madrigalvers: ein sehr frei gestalteter gereimter Vers, der sich im 17. Jahrhundert im Madrigal (kunstvolles weltliches Chorlied) entwickelte und in der Dichtung der Aufklärung beliebt wurde. Er kann drei-, vier- und fünfhebig, jambisch, trochäisch oder auch daktylisch sein, eine sehr variantenreiche Versart also.
    Im »Faust« ist es bevorzugt der Vers, in dem Goethe Mephisto pointenreich sprechen lässt:
    • Ihr dúrchstudiert die gróß’ und kléine Wélt,
      Ùm es am Énde géhn zu lássen,
      Wie’s Gótt gefällt.

    Mit dem letzten überraschenden Kurzvers, der den Reim des vorhergehenden längeren Verses aufnimmt, wird Mephistos Pointe scharf und lässig herausgearbeitet.

     

STROPHENFORMEN

  • Das Distichon (von griech. »Doppelvers«): Verspaar aus Hexámeter und Pentámeter. Friedrich Schiller verfasste ein Distichon mit dem Titel Distichon, das zugleich als Merkvers gelten kann
    :
  • »Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
    Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.«

     

    - È - È È - / È - È - È È - È
    - È - È È - / - È È - È È -

 

 

  • Die Terzine (ital. von lat. tertius = der Dritte): dreizeilige Strophenform, im Deutschen aus fünffüßigen Jamben mit umarmendem Reim (aba), der durch die Reihung von Strophen zum fortlaufenden Kettenreim wird (aba / bcb / cdc / usw.).

    Im »Faust« lässt Goethe die Titelfigur im 2. Teil mit Terzinen beginnen:
          • Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,
            Ätherische Dämmerung milde zu begrüßen;
            Du Erde warst auch diese Nacht beständig
            Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen,
            Beginnest schon mit Lust mich zu umgeben,
            Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen,
            Zum höchsten Dasein immerfort zu streben. -
            In Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,
            [...]

 

  • Die Volksliedstrophe ist in ihrer häufigsten Form eine vierzeilige Strophe mit drei oder vier Hebungen alternierend, d.h. im Wechsel, mit einer Senkung. Die Zeilen enden abwechselnd zweisilbig (weiblich, klingend) und einsilbig (männlich, stumpf), entsprechend ist die vorherrschende Reimform der Kreuzreim. Mit dem Versende fällt meist auch eine Pause im Satz zusammen.
    Die Volksliedstrophe findet sich nicht nur im Volkslied; seit Herders und Goethes Begeisterung für die Volksdichtung haben Dichter, besonders in der Epoche der Romantik, immer wieder im »Volksliedton« gedichtet.
  • Als Beispiel ein Gedicht von Heinrich Heine (1824), das zum Volkslied geworden ist:

      Das Loreleylied

      Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
      Daß ich so traurig bin;
      Ein Märchen aus uralten Zeiten,
      Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

      Die Luft ist kühl und es dunkelt,
      Und ruhig fließt der Rhein;
      Der Gipfel des Berges funkelt
      Im Abendsonnenschein.

      Die schönste Jungfrau sitzet
      Dort oben wunderbar;
      Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
      Sie kämmt ihr goldenes Haar.

      Sie kämmt es mit goldenem Kamme
      Und singt ein Lied dabei;
      Das hat eine wundersame,
      Gewaltige Melodei.

      Den Schiffer im kleinen Schiffe
      Ergreift es mit wildem Weh;
      Er schaut nicht die Felsenriffe,
      Er schaut nur hinauf in die Höh.

      Ich glaube, die Wellen verschlingen
      Am Ende Schiffer und Kahn;
      Und das hat mit ihrem Singen
      Die Lore-Ley getan.

Eine Deutung des Loreleyliedes von Heinrich Heine finden Sie hier.                   Postkarte aus den »Zwanziger Jahren«
Links zu Informationen zum Loreley-Motiv.

 

WEITERE STRUKTURELEMENTE

  • Reim
  • Die älteste Form des Reims im Deutschen ist der Stabreim, auch

    Alliteration

     

                         genannt, bei dem in einem Vers mindestens zwei Wörter mit demselben Laut beginnen:

        Winterstürme wichen dem Wonnemond,
        im milden Lichte leuchtet der Lenz;
        auf lauen Lüften lind und lieblich
        Wunder webend er sich wiegt;
        durch Wald und Auen weht sein Atem,
        weit geöffnet lacht sein Aug’.
        Aus sel’ger Vöglein Sange süß er tönt,
        holde Düfte haucht er aus;
        seinem warmen Blut entblühen wonnige Blumen.’
        Keim und Spross entspringt seiner Kraft.
        Mit zarter Waffen Zier bezwingt er die Welt.
        Winter und Sturm wichen der starken Wehr.

        Aus: Richard Wagner, Walküre. I. Akt, 3. Szene

    Eine Häufung von Alliterationen, die auf heutige Leser bzw.
    Hörer skurril wirkt.

    Man findet die Alliteration auch in Redewendungen ...

      was Küche und Keller hergeben

      bei Wind und Wetter

      mit Kind und Kegel

      Untergang mit Mann und Maus

       

    ... und in der Werbung.
          Milch macht müde Männer munter.

    Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Reim den

    Endreim.

     

    Man unterscheidet ihn nach der Anzahl der reimenden Silben:

      stumpfer oder männlicher oder einsilbiger Reim

           Rauch - Hauch

      klingender oder weiblicher oder zweisilbiger Reim

      klagen - sagen

      reicher oder dreisilbiger Reim (kommt selten vor)

      schleichenden - weichenden

 

 

     

    Man unterscheidet außerdem nach der Reimfolge:

      Paarreim

      aa bb cc ...

      Kreuzreim

      abab cdcd ...

      umarmender Reim

      abba cddc ...

      Schweifreim

      aabccb

      Waise

      Die Waise ist eine reimlose, »verwaiste« Verszeile innerhalb gereimter Verse.

 

 

 

 

     

    Ein vokalischer Halbreim ist die

    Assonanz.

       Hier klingen nur die Vokale gleich:   Stab - Macht;   schlafen - klagen;  Wagen - rasseln.

    Eine Sonderform des Reims ist der

    Schüttelreim.

       Seine Regeln sind leicht zu durchschauen:

                Menschen mögen Möwen leiden,
                während sie die Löwen meiden.

                Oder:

                Es klapperten die Klapperschlangen,
                bis ihre Klappern schlapper klangen.

     

    Christian Morgenstern

      Das ästhetische Wiesel

      Ein Wiesel
      saß auf einem Kiesel
      inmitten Bachgeriesel.

      Wißt ihr
      weshalb?

      Das Mondkalb
      verriet es mir
      im Stillen:

      Das raffinier-
      te Tier
      tat's um des Reimes willen.
       

     

 

  • Rhythmus

    In mancherlei Hinsicht dem Rhythmus der Musik vergleichbar kann bei einer sprachlichen Äußerung ein charakteristischer Sprachfluss wahrgenommen werden: z.B.
                                                   fließend - stockend - strömend - gestaut.
  • In der Sprache von Gedichten können verschiedene Elemente eine rhythmische Struktur bewirken:
    - in erster Linie das
    Metrum, das unterschiedlich
      realisiert sein kann, z.B. regelmäßig oder
      auffallend unterbrochen;
    - das Verhältnis von Versstruktur und Satzbau,
     
    Enjambement oder Zeilenstil;
    - Satzstrukturen, z.B.
    Parallelismen, Anaphern,
      Einschübe;
    - die
    Reimfolge.

    Diese Elemente sind objektiv feststellbar, der durch sie bewirkte Rhythmus selbst allerdings ist eine weniger objektivierbare Kategorie für die Beschreibung von Gedichten, zumal seine Wahrnehmung durch die Art des Lesens gesteuert werden kann.

     

     

  • Enjambement
  • Zeilensprung: Wenn in einem Gedicht ein Satz nicht mit der Verszeile endet, sondern in die nächste Versezeile »hinüberspringt«, entsteht eine Spannung zwischen Syntax und Versbau, zwischen inhaltlicher und metrischer Gliederung. Das Versende lässt eine Pause erwarten, der Satz aber läuft weiter. Das kann verschiedene Wirkungen erzeugen. Ein Beispiel:

              Conrad Ferdinand Meyer (1825 - 1898)

              Der römische Brunnen

              Aufsteigt der Strahl und fallend gießt                   Enjambement
              Er voll der Marmorschale Rund,
              Die, sich verschleiernd, überfließt                       
              Enjambement
              In einer zweiten Schale Grund;
              Die zweite gibt, sie wird zu reich,
              Der dritten wallend ihre Flut,
              Und jede nimmt und gibt zugleich
              Und strömt und ruht.

 

In diesem Gedicht ist das Enjambement Teil der Aussage: Das Strömen des Wassers von einer Brunnenschale zur nächsten, der fließende Übergang, ist auch im Rhythmus des Gedichts zu hören.

 

 

Eine weiter gehende Deutung finden Sie hier.

 

 

 

 

 

  • Zeilenstil
  • Ein Versstil, bei dem die Sinneinheit der einzelnen Zeile erstrebt und das Enjambement vermieden wird.
    Zeilenstil findet man oft bei Gedichten in volkstümlichem Ton, z.B. in Goethes
    »Erlkönig«:

 

       

      Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
      Es ist der Vater mit seinem Kind.
      Er hat den Knaben wohl in dem Arm.
      Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

 

 

    Auch in der Lyrik des Expressionismus wird immer wieder der Zeilenstil verwendet, z.B. um die unverbundene Gleichzeitigkeit - Simultaneität - des Geschilderten zum Ausdruck zu bringen.
    Ein Beispiel dafür ist

    Alfred Lichtenstein

      Die Dämmerung

      Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
      Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
      Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
      Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

      Auf lange Krücken schief herabgebückt
      Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
      Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
      Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

      An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
      Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
      Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
      Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

       

      Eine Selbstinterpretation Alfred Lichtensteins finden Sie hier.

 

 

  • Zäsur
  • Die Zäsur ist ein vom Versmaß geforderter, regelmäßig wiederkehrender Einschnitt im Vers. Vom Metrum her festgelegte Einschnitte gibt es beim Alexandriner und beim Pentameter.

      Als Beispiel ein Vers von Martin Opitz (1597-1639):

      Ich weiß nicht, was ich will, || ich will nicht, was ich weiß.

    Die Spaltung des Verses durch die Zäsur in zwei Teile pointiert die Gegensätzlichkeit des Inhalts. Unterstützt wird in diesem Beispiel die Pointierung durch die rhetorische Figur des Chiasmus.

 

 

GEDICHTFORMEN

  • Ballade
  • Ursprung: Ursprünglich war die Ballade (ital. ballare = tanzen) in den romanischen Ländern ein kurzes Tanzlied in Strophen, das im Wechsel zwischen Vorsänger und Tanzenden gesungen wurde. Mit Beginn des 13. Jahrhunderts entwickelten es die Troubadure in Frankreich weiter. In England und Schottland bezeichnete man Lieder, die die Taten von Volkshelden (wie Robin Hood) besingen, als Balladen. Dieser Begriff wurde dann im deutschen Sprachraum auf Lieder übertragen, die etwas mit Märchen und Sagen gemeinsam haben, die von Heldentaten, aber auch von Dämonen und Geistern erzählten. Zunächst wurden sie anonym als sogen. Volksballaden weitererzählt oder auch als Bänkellieder vorgetragen.

    Kunstballade: Heute versteht man unter Ballade eine dramatische Erzählung in Gedichtform. In der Ballade findet man Elemente aus allen drei Gattungen - Drama, Epos/Erzählung, Lyrik: In der Regel wird in ihr eine Geschichte erzählt, sie ist nicht selten geprägt von wörtlicher Rede und Dialog, gleichzeitig wird die Ballade von einer starken gefühlsmäßigen Beteiligung und Wertung getragen. Aus diesen Gründen ist sie von Goethe als ein Genre aufgefasst worden, in dem alle Gattungen synthetisiert sind. Goethe meinte in ihr sogar die ursprüngliche Naturform der Poesie sehen zu können, »weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Urei zusammen sind«.

    Entwicklung und Beispiele: Mit Gottfried August Bürgers »Lenore« (1773), einer schaurig-schönen Gespenstergeschichte, begann in der deutschen Literatur die Entwicklung der Kunstballade. Goethe und Schiller haben sie zu einer neuen kunstvollen Form weiterentwickelt und vor allem in der Zeit ihrer intensiven Zusammenarbeit im sogen. Balladenjahr (1797/98) eine große Anzahl von Balladen geschrieben: Goethe z.B. »Erlkönig«, »Der Zauberlehrling« - Schiller z.B. »Der Handschuh«, »Der Taucher«, »Die Kraniche des Ibykus«, »Die Bürgschaft«. Diese Tradition wurde von Heine (»Atta Troll«) und Fontane (»Die Brück‘ am Tay«) im 19. Jahrhundert, von Brecht und Biermann mit Rückbesinnung auf die volkstümlichen Wurzeln des Bänkelsangs im 20. Jahrhundert fortgesetzt.

 

 

  • Sonett
  •  

    Das Sonett ist eine Gedichtform mit einem strengen Aufbau:

    Vier Strophen - zwei Vierzeiler (Quartette) und zwei Dreizeiler (Terzette),

    Reimfolge üblicherweise
    abba
    abba (
    umarmender Reim)
    || (
    Zäsur)
    cdc
    dcd,
    allerdings kommen auch andere Kombinationen vor, vor allem bei den Terzetten.

    Dem formalen Aufbau entspricht meist auch eine deutliche gedankliche Gliederung: Die Quartette können z.B. in These und Antithese die Themen des Gedichts aufstellen, die Terzette diese Themen dann entfalten und die Schlusszeile kann das Ergebnis der vorangegangenen Gedanken und Bilder pointiert hervorheben.

    Verwendung des Sonetts: Einen ersten Höhepunkt erlebte das Sonett im Italien der Renaissance (14.- 16. Jahrhundert). Francesco Petrarca (1304-1374) wurde durch seine Sonette berühmt (ein Beispiel) und in Rom 1341 zum Dichter gekrönt. Einen Gipfel der englischen Sonett-Kunst stellt Shakespeares (1564-1616) Zyklus von 154 Sonetten dar, erstmals erschienen 1609 (ein Beispiel: Sonett LX). In der deutschen Literatur verwendeten Dichter des Barock das Sonett, z.B. Paul Flemming (1609-1640) und Andreas Gryphius (1616-1664). (Ein Beispiel: »Menschliches Elende«.) Die Strenge dieser Gedichtform war ein Mittel, die Erfahrung des Chaos in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu bewältigen. Ähnliches kann vielleicht gelten für die expressionistische Lyrik in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs, die auffallend häufig der Ahnung des Chaotischen und den Wunsch nach Durchbrechen starrer Ordnungen im Sonett gestaltete.Vgl. dazu Gedichte von Georg Heym. Auch Goethe verwendete die Sonettform. Geradezu begeistert aufgenommen wurde sie von den Romantikern und von ihnen nahe stehenden Dichtern späterer Generationen, wie Rainer Maria Rilke (1875-1926) (»Sonette an Orpheus«) (Beispiel: »Ein Gott vermags. ...»)oder Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)(Beispiel: »Die Beiden«).

     

 

  • Freie Rhythmen
  • Können Sie kein regelmäßiges Metrum und keine regelmäßige Reimfolge erkennen? Sind die Verse unterschiedlich lang, oft von Zeile zu Zeile wechselnd?
    Dann handelt es sich um sogenannte »Freie Rhythmen«: freie, metrisch ungebundene, bewusst rhythmisch bewegte Verse von nicht festgelegter Anzahl und Folge von
    Hebungen und Senkungen.

    Muss ein Dichter sich nicht an (selbst gewählte) formale Vorgaben halten, kann er unmittelbarer Stimmungen und Gefühle in den Rhythmus des Sprechens übertragen. Dynamisch bewegte oder auch feierlich-hymnische Gedichte sind oftmals in »Freien Rhythmen« verfasst. Auch wenn ein formales Gerüst fehlt, handelt es sich nicht um Prosa. Satzbau und Sprechfluss sind im Vergleich zur Alltagssprache deutlich verändert und auffallend rhythmisiert.

    In der Lyrik des Sturm und Drang rebellierten die Dichter mit »Freien Rhythmen« nicht nur gegen formalen Regelzwang, sondern auch gegen alle Formen, z.B. gesellschaftlicher, politischer, religiöser, Bevormundung.
    Ein berühmtes Beispiel dafür ist
    Goethes Gedicht »Prometheus«:

Prometheus

 

 

    Bedecke deinen Himmel, Zeus,
    Mit Wolkendunst!
    Und übe, Knaben gleich,
    Der Disteln köpft,
    An Eichen dich und Bergeshöhn!
    Mußt mir meine Erde
    Doch lassen stehn,
    Und meine Hütte,
    Die du nicht gebaut,
    Und meinen Herd,
    Um dessen Glut
    Du mich beneidest.

    Ich kenne nichts Ärmeres
    Unter der Sonn als euch Götter.
    Ihr nähret kümmerlich
    Von Opfersteuern
    Und Gebetshauch
    Eure Majestät
    Und darbtet, wären
    Nicht Kinder und Bettler
    Hoffnungsvolle Toren.

    Da ich ein Kind war,
    Nicht wußte, wo aus, wo ein,
    Kehrte mein verirrtes Aug
    Zur Sonne, als wenn drüber wär
    Ein Ohr zu hören meine Klage,
    Ein Herz wie meins,
    Sich des Bedrängten zu erbarmen.

    Wer half mir wider
    Der Titanen Übermut?
    Wer rettete vom Tode mich,

Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?

Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
                      

1773/77 e                 Johann Wolfgang Goethe

 

                  »Prometheus erwehrt sich des Adlers«,
                  Zeichnung Goethes
                  (Bleistift, Feder, Tusche),
                  vermutlich erst nach 1787

       

       

       

 

 

»Gliederung und Aufbau
von Gedichten«
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