Über Alfred Lichtenstein, »Die Dämmerung«

e 1911.

„Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, irgendwo ... in ihrer Einwirkung auf die Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)“ (Alfred Lichtenstein, Selbstkritik [1913].)

Der Urheber des Gedichts will nicht eine als real denkbare Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst ist, daß sie „ideeliche" Bilder hat. Das bedeutet – angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen Teich als Spielzeug benutzt, und die beiden Lahmen auf Krücken über dem Feld und die Dame in einer Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, in der er lustig sein muß – können ein dichterisches „Bild" hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden nichts als ein Durcheinander komischer Vorstellungen. Andere glauben sogar – zu unrecht –, daß auch in der Malerei derartige „ideeliche" Bilder möglich sind.

Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein weiß, daß der Mann nicht am Fenster klebt, sondern hinter ihm steht. Daß der Kinderwagen nicht schreit, sondern das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem Fenster.

Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt m i t einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns haben... Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben ...

Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein Dichter wird vielleicht verrückt – macht einen tieferen Eindruck als: Ein Dichter sieht starr vor sich hin. [...]

Kanzog, Klaus (Hrsg.): Alfred Lichtenstein, Gesammelte Gedichte, Zürich: Arche 1962, S, 113/114.