Über C. F. Meyer, »Der römische Brunnen«

Aus einer Seminararbeit von Thorsten Preuß, Universität Erlangen,
http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/barock/opitz.html

»Wie die genaue Entsprechung von Darstellung und Dargestelltem bis ins sprachliche Detail reicht, kann hier nur an wenigen Beispielen angedeutet werden. So übersetzen die Anfangsverse die räumliche Bewegung des Steigens und Fallens in den Sprechrhythmus. Mit der Inversion des Verbs wird das jambische Metrum gleich zu Beginn durchbrochen, und die Betonung der ersten zwei Silben des Gedichts setzt die Kraftanstrengung des emposteigenden Strahls ebenso sprachlich um wie die Alliteration ›Aufsteigt‹ - ›Strahl‹. Im ›Strahl‹ staut sich dann die rhythmische Energie und entlädt sich im folgenden Halbsatz, der gewissermaßen den zweiten Vers braucht, um auszulaufen. Auf und Ab sind über Assonanz (›Strahl‹ - ›fallend‹) und neuerliche Inversion aufeinander bezogen, wobei die Voranstellung des Partizips ›fallend‹ der Rhythmik zusätzlich Schwung verleiht. Insgesamt stehen im Gedicht drei Partizipien einem einzigen Adjektiv gegenüber - ein Indiz für Meyers Bestreben, sein Bild zu dynamisieren. Auch das Aufstauen des Wassers in den Schalen findet sein sprachliches Äquivalent in zwei Einschüben (V. 3: Partizip, V. 5: Parenthese), die den durchlaufenden Satz stocken lassen.

Allerdings: Über Farbe und Größe der Schalen, über die Umgebung des Brunnens oder ähnliche realistische Details hat der Leser bisher nichts erfahren. An einer quasi-fotografischen Abbildung scheint das Gedicht nicht interessiert. Konsequenterweise lassen sich die Schlußverse mit den Begriffen ›Konzentration‹ und ›Abstraktion‹ erfassen. Sie lenken den Blick von der einzelnen Schale auf den ganzen Brunnen und heben das Entscheidende hervor: das ständige Geben und Nehmen, das Ruhen im Verströmen. Das viermalige ›und‹"
rhythmisiert die beiden Verse und drückt so noch einmal das Fließen des Wassers aus. Zugleich markiert es als Anapher Versbeginn und Versmitte und verdeutlicht damit die metrische Abweichung der Schlußzeile, die auf nur zwei Hebungen verkürzt ist: Der Rhythmus stockt und drückt so das Ineinander von ›Strömen‹ und ›Ruhen‹ aus. Die metrische Verkürzung macht beide Ausdrücke zu Signalwörtern, in denen das Gedicht kulminiert.

In dieser Konzentration auf die Harmonie von Dynamik und Statik weist das Gedicht, jedoch ohne seine eigene Deutung mitzuliefern, über den spezifischen Gegenstand hinaus, der seinen Anlaß dargestellt haben mag. Der Brunnen Conrad Ferdinand Meyers ist ein
Symbol (im Sinne Goethes), das nicht mehr eindeutig auflösbar ist. [...] So wird in diesem Kunstbrunnen letztlich ein Daseinsprinzip anschaulich, die Dialektik von Strömen und Ruhen; ja mehr noch, Bewegung und Stillstand gelangen zur Einheit, zur Harmonie, und zwar mittels der Form des Brunnens, mittels der Kunst. Meyers Gedicht spricht von Kunst, in letzter Konsequenz von sich selbst. Es vollzieht in seiner klassizistischen Gestaltung die Harmonie des Brunnens sprachlich nach. Die Kunst wird so - im Brunnen, in der dichterischen Beschreibung des Brunnens - nicht nur zur bloßen Abbildung des Lebens; dank der Form vermag sie erst dessen Wesen zu erfassen und ihm seine ideale Gestalt zu geben. Obwohl es die Form ist, die Kunst vom Leben trennt, wird Leben erst dank ihr erfahrbar.«